Vor genau einem Jahr verschwand die Ukrainerin Wiktoria Andruscha: Nach mehrwöchiger Okkupation zogen sich die russischen Soldaten in den letzten Märztagen des Vorjahres aus dem Dorf Staryi Bykiv im Osten Kiews zurück. Danach fehlte von der 25-jährigen Lehrerin jede Spur. Andruschas damals letzter bekannter Aufenthaltsort: ein Bunker, in dem sonst nur ukrainische Männer festgehalten wurden. Ihnen warfen die russischen Invasoren vor, sie hätten zur Waffe gegriffen oder könnten es tun. Das lässt das Kriegsvölkerrecht unter Umständen vorübergehend sogar zu. Laut einem Bericht des "New Yorker" kamen aber nach dem Rückzug nicht alle wieder frei: Drei Männer wurden tot gefunden – und Andruscha war verschwunden. Mutiger Widerstand Die junge Frau war wenige Tage zuvor ins Visier der Russen geraten, weil sie Informationen über vorbeifahrende Militärfahrzeuge an eine Bekannte mit Verbindungen zur ukrainischen Armee weitergegeben hatte. Davon bekamen die russischen Besatzer auf bisher ungeklärte Weise Wind und führten sie vor den Augen der Eltern ab. Wie die verzweifelte Familie erst nach Wochen erfuhr, wurde die Tochter nach Russland verschleppt und an einem unbekannten Ort in Kriegsgefangenschaft genommen – ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht. Denn dieses sieht vor, dass nur Militärs und bewaffnete Freiwillige als Kriegsgefangene festgehalten werden dürfen (unter menschenwürdigen Bedingungen, Anm.). Entführungen von Zivilisten gelten dagegen als Kriegsverbrechen – und dennoch sitzen nach Schätzungen der Experten vom Kiewer Center for Civil Liberties (CCL) etwa 2.500 ukrainische Zivilisten und Zivilistinnen in Gefängnissen in Russland oder besetzten Gebieten fest. Grausame Schilderungen "Ich wurde wie eine Verbrecherin behandelt", schildert Wiktoria Andruscha dem STANDARD via Skype aus ihrer Wohnung bei Kiew. Es brauchte fast sechs Monate und ein mehrköpfiges russisches Anwaltsteam, um sie ausfindig zu machen und ihre Freilassung im Herbst 2022 durchzusetzen.